„Mare Nostrum“ ist ein gewaltiger Kraftakt. 32 Militärschiffe, zwei Unterseeboote, Helikopter und Aufklärungsflugzeuge sind in diesem Jahr im Einsatz. Mehr als neun Millionen Euro kostet die Operation der italienischen Regierung im Monat. Die Marineoperation hätte es ohne eine der größten Flüchtlingskatastrophen der vergangenen Jahre am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa wohl nie gegeben. Erstmals waren viele Flüchtlinge in unmittelbarer Nähe der italienischen Insel ertrunken, vor den Badenden, vor den Fischern und vor den Inselbewohnern. Die Einheimischen sahen die weißen Kindersärge und der Papst sprach ein Wort aus, das die Menschen in Italien alle verstehen konnten: Vergogna, Schande. Ausgerechnet Italien, das vor wenigen Jahren noch Schlagzeilen wegen seines erbarmungslosen Abweisens von Bootsflüchtlingen machte, startete zwei Wochen später eine der wohl größten Rettungsoperationen der Geschichte.
In einem Jahr rettete Italien 150.000 Menschen aus dem Mittelmeer und führte damit Europas Abschottungspolitik ad absurdum. Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck schlug deshalb vor, den Matrosen und Marinesoldaten den Friedensnobelpreis zu verleihen1Neudeck: Gastbeitrag zu Mare Nostrum. Und auch Italien gefällt sich in seiner neuen Rolle: Seht her, wir sind die Europäer mit Herz, sagen sie, während die da oben im kalten Norden an der Dublin-Verordnung festhalten und so die Länder im Süden mit dem Flüchtlingsansturm alleinlassen. Aber verdecken die Rettungsaktionen nicht eines, werfen die Kritiker ein: Es ist Europa und so auch die italienische Politik, die Flüchtlinge erst auf diese riskanten Routen aufs Meer zwingt. Denn noch immer gibt es selbst für Syrien-Flüchtlinge kaum legale Wege, Europa überhaupt zu erreichen.
Vor vier Wochen hat sich Mutaz auf den Weg gemacht. Er will weg vom syrischen Krieg, der kein Ende zu nehmen scheint. Mutaz ist 24 Jahre alt, er soll zum Militärdienst, aber er will nicht töten und vor allem: Er will nicht sterben. Mutaz flüchtet nach Jordanien. Dort erkundigt er sich, welche Möglichkeiten es gibt, in Deutschland Schutz zu erhalten. Aber es gibt de facto keine. Als sein Erspartes nicht mehr reicht, nimmt er den Weg, den so viele schon vor ihm genommen haben. Amman, Beirut und von dort nach Algerien, weil das Land von Syrern kein Visum verlangt. Sie sind zu fünft. Abdurahman, 25, ist einer davon. Mutaz und Abdurahman stammen beide aus Damaskus und mögen sich schnell. Über Tunesien reisen sie zur Grenze nach Libyen. In Libyen herrscht nach Gaddafi die nackte Gewalt. Milizen kämpfen um die Macht und nehmen Flüchtlingen ab, was diese nicht verstecken können, sie schießen für ein Handy, sie töten für einen Pass. Abdurahman macht Mutaz Mut, er ist da, wenn Mutaz zweifelt, er heitert ihn auf, wenn ihm zum Heulen zumute ist. Sie brauchen sich gegenseitig in diesen Tagen.
In Zuwarah erreichen sie das Anwesen der Schlepper. Vor dem großen Tor stoppen Geländewagen und laden Flüchtlinge ab. Es ist finster, kein Licht brennt in den Gebäuden. Mutaz bezahlt 2000 Euro an einen, den sie Abu Hasan nennen, ein großgewachsener Mittdreißiger mit knarzender Stimme, erinnert sich Mutaz. Am 24. August brechen sie schließlich auf. Der Schlepper bringt sie zu einem Schlauchboot, das sie etwa einen Kilometer auf See hinausfährt. Dort wartet der Fischkutter, der sie nach Europa bringen soll. Zwölf Meter lang ist das azurblaue Schiff. „In Gottes Hand“, steht am Bug. Weitere Flüchtlinge kommen hinzu. Das Unterdeck füllt sich, das Deck, dann auch das Oberdeck. Dort am hinteren Ende findet Mutaz seinen Platz. Rund 500 Menschen sind an Bord, es sind viel zu viele, die meisten kommen aus Syrien. Nur wenige tragen Rettungswesten.
Es ist bis heute nicht bis ins letzte Detail geklärt, was dann geschieht. Man weiß: Der Motor des Schiffes setzt nach kurzer Zeit aus. Über Satellitentelefon kontaktieren die Flüchtlinge die Schleuser in Libyen. Diese schicken ein Schiff, das sie einige Meilen weiter auf See schleppt. Bis die Besatzung eines Öltankers das überfüllte Boot bemerkt und die Marine kontaktiert. Als sich ein Helikopter nähert, kappen die Schleuser das Seil und überlassen die Flüchtlinge ihrem Schicksal. Wasser sickert in das Boot. Mit Pumpen und Eimern kämpfen die Menschen an Bord gegen das Wasser an. Sie sind gerade 20 Meilen vor der libyschen Küste als sich die ersten Helfer in Schlauchbooten nähern und Rettungswesten werfen. Aber die Westen sind nicht die Rettung - für viele bedeuten sie den Tod. Flüchtlinge berichten später, dass unten im Deck, wo viele Afrikaner untergebracht wurden, die Luft immer dünner wird. Die Menschen drängen nach oben. Das Boot gerät ins Wanken. Die Ersten greifen nach den Rettungswesten, drängen auf eine Seite, das Schiff neigt sich immer mehr. Panik bricht aus. „Bleibt ruhig“, ruft Mutaz, aber es gibt die, die nicht warten können. Sie springen von Bord und schwimmen auf die Rettungsboote zu. Das Schiff verliert die letzte Balance, neigt sich nach Backbord und kentert. Auch Mutaz und Abdurahman stürzen ins Wasser. Es ist der 24. August, 19.58 Uhr, als Mutaz seinen Freund Abdurahman das letzte Mal sieht.
Mutaz sitzt jetzt auf dem Feldbett vor dem Erstaufnahmezelt. Er macht sich Vorwürfe. „Ich konnte sie einfach nicht beruhigen“, murmelt er. „Ich konnte nicht.“ Er sagt, dass es schmerzt, gesehen zu haben, wie Menschen in Panik und Angst reagierten. „Es sollte doch alles gut werden, wir waren kurz davor gerettet zu werden, aber wir konnten einfach nicht warten.“ Er hatte gehofft, dass er Abdurahman vielleicht hier im Hafen noch findet, dass er ihn einfach übersehen hat, dass er ihn vielleicht auf einem Schiff, das später ankam, entdeckt. Aber jetzt am späten Nachmittag ist der Tod Gewissheit. Nicht nur für ihn. Im Zelt der Ärzte ohne Grenzen bricht ein Syrer, ein Körper wie ein Bodybuilder, zusammen. Und nun steht fest: Die Eltern eines eineinhalb Jahre alten Mädchens leben nicht mehr. Ein junger Syrer hat Hala aus dem Wasser gefischt. Sie trieb auf einem Stück Holz. Jetzt liegt Hala
in den Armen ihres Retters. Das Unglück hat mehr als 100 Menschenleben gekostet. Es wird darüber kaum eine Meldung in internationalen Medien geben. Das Sterben ist auch im Sommer von „Mare Nostrum“ Alltag.