Einmal war Mohamed Djim seinem Traum schon ganz nah. Die Polizei hatte gerade ein Camp der Afrikaner auf dem Berg gestürmt. Am Ende lag ein Junge tot am Boden. Die Bewohner des Camps packte der Zorn, sie liefen los, alle zusammen, den Berg Gourougou hinunter bis zur Grenze. Mohamed Djim mittendrin. Immer wieder hatten sie in der Vergangenheit versucht, über den Zaun nach Melilla zu klettern. Diesmal aber wollten sie gar nicht über die Grenze. Sie liefen auf den offiziellen Grenzübergang zu. Und blieben einfach davor stehen. Sie wollten zeigen, dass man nicht alles mit ihnen machen kann. „Wir waren so viele“, sagt Mohamed Djim. „Uh, das war ein gutes Gefühl.“ Dann sind sie wieder hinauf auf den Berg.
Mohamed Djim, schmächtig und still, lebt nun etwas weiter im Hinterland der Berge von Afra. Er sitzt auf einem wackeligen Stein vor seinem Zelt. Von seinem Hügel aus sieht er über die Kiefernwälder am Rande des marokkanischen Rif-Gebirges. Er kann den Berg Gourougou, über den er damals hinunterstürmte, sehen, das Meer und die Stadt Melilla, von der hier alle träumen, weil sie viel mehr als nur eine Stadt mit einem Hafen ist.
Melilla ist neben Ceuta und den Kanaren alles, was Spanien von seiner Kolonialherrschaft in Afrika geblieben ist. Seit mehr als 500 Jahren klammert sich das Königreich an die 84.000-Einwohner-Stadt am nördlichen Rand des afrikanischen Kontinents. So wurde die spanische Exklave zu einem Vorposten Europas. Flüchtlinge haben drei Möglichkeiten, Melilla zu erreichen. Der härteste aller Wege führt vom Berg Gourougou über den Hochsicherheitszaun. Er kostet kein Geld, aber die Erfolgsquote ist gering. Es ist die Route der Ärmsten der Armen. Ein zweiter Weg führt mit einem gefälschten Pass oder versteckt in einem Auto über den offiziellen Grenzübergang. Etwa 2000 Euro lassen sich dafür Schlepper bezahlen. Und schließlich ist da noch die Route mit dem Boot in die Exklave oder direkt über die Meerenge von Gibraltar. Zwischen 1500 und 2000 Euro kostet die Fahrt. Viele, die sich auf diese Reise vorbereiten, haben sich in die ruhigeren Afra-Berge zurückgezogen, so wie Mohamed Djim. Es ist nicht ganz so nah am Zaun, nicht ganz so nah an den Polizeikontrollen.
„Willkommen in meinem Ghetto“, hatte Mohamed Djim gesagt, als wir ihn das erste Mal im Wald trafen, und dabei selbst ein wenig über das Wort gelächelt. Seit drei Monaten lebt er in den Bergen. Anfangs schlief er noch in einem größeren Camp. Aber Mohamed Djim mochte nicht, wie dort miteinander umgegangen wurde. Zu oft gab es Streit und Auseinandersetzungen, Mohamed Djim aber wollte seine Ruhe. Er zog auf die nächste Anhöhe und schlug sein Zelt auf. Freunde kamen und blieben. Dann Freunde der Freunde. Inzwischen sind sie ein gutes Dutzend. Favour, die hübsche Nigerianerin mit den hochfrisierten Haaren, wohnt hier, immer einen Kamm in der Hand, Modedesignerin will sie einmal werden. Gift, die davon träumt, Friseurin zu werden, Sosis mit ihren melancholischen Liedern, „vielleicht werde ich Sängerin“, sagt sie einmal. Gemeinsam wollen die Frauen ein Boot finden. Sie haben die Rettungswesten schon gekauft.