Dann geht es los für Waleed. Er greift Koffer und Reisetasche, geht in die Knie, öffnet den Koffer, die Zahnbürste, die T-Shirts, alles darin, er schließt ihn, jetzt aber los Waleed!, steht auf, wieder in die Knie, klappt den Koffer noch einmal auf, öffnet die Reisetasche, kramt darin, das Handtuch, beeil dich Waleed!, rufen seine Freunde, die jetzt auf der Straße im Halbkreis um ihn stehen, murmeln, gestikulieren, reden auf ihn ein, lachen, weil Waleed hektisch wird. Jetzt springt Waleed hoch, stolpert fast und läuft los. Nach wenigen Schritten bleibt er stehen. Er dreht sich um. Er hebt den Daumen und lächelt: Seht her, ich habe es geschafft. Ein Schlepper hat ihm einen Platz auf einem Lkw besorgt. Waleed ist auf dem Weg nach Europa.
Waleed geht und lässt seine Freunde auf dem Platz zurück. Ahmed, 26, den Philosophiestudenten aus Aleppo, der nie viele Worte macht, der den ganzen Tag dort sitzen kann, um sich auf seinem Handy Zeichentrickfilme anzusehen. Mustafa, 33, den Mechaniker, vorsichtig und eigentlich immer ein wenig nervös, schnell gereizt und unruhig, seit zwei Jahren ist er in Istanbul. Wael, 29, der auf seinen Ausweis wartet, ein gefälschtes Dokument, das ihn nach Algerien und von dort nach Libyen bringen soll, ein Kumpeltyp, bedächtig, wenn, dann möchte man so einen wie ihn in einem der Flüchtlingsboote neben sich haben. Sie schauen Waleed hinterher, der jetzt verschwunden ist. Und gehen zurück zum Café Vatan, zu dem Mäuerchen davor, auf dem sie immer sitzen, weil es dort Internet gibt und jemand das Passwort kennt, vatan2014.
Das ist Aksaray in Istanbul, ein Drehkreuz der Flüchtlingsrouten. Ein Stadtviertel mit einem Platz, auf dem sich für einen Augenblick die Wege der Flüchtlinge nach Europa kreuzen. Dort treffen aufeinander: die Iraker, die vor den Dschihadisten des Islamischen Staates flüchten, die Syrer, die den Bomben des Assad-Regimes entkommen wollen, die Afghanen, die endgültig alle Hoffnung für ihr Land begraben haben. Manchmal kommt es deshalb zu den absurdesten Begegnungen. Dann treffen Flüchtende auf die, vor denen sie geflüchtet sind. Ausgerechnet der Traum von Sicherheit bringt sie wieder zusammen.
Aksaray ist auf Unrecht gebaut. Hier ließ Sultan Mehmed II. im 15. Jahrhundert Bewohner aus der gleichnamigen Stadt in Zentralanatolien ansiedeln. Es ist bis heute kein Viertel, in dem sich Menschen aufhalten, wenn es nicht unbedingt sein muss. Eine Welt aus Telefonläden, Reisebüros und Busunternehmen. Mossul, Kirkuk, Bagdad steht an den Schaufenstern, für Europa nur Kriegsschauplätze, für die Menschen von Aksaray aber Reiseziele. Zu Aksaray gehört auch der verschwenderisch große Platz vor der Metrostation. Ein Ort der Wartenden, der beschaulich sein kann wie ein Dorfplatz, um im nächsten Moment zu brodeln, wenn die Ungeduld in Wut umschlägt. Und Aksaray ist eine Hinterwelt aus Gassen, die die Menschen vom Platz manchmal verschluckt und erst nach Stunden wieder ausspeit. In der es Cafés und Wohnungen gibt, in denen Geschäfte gemacht werden, die es nicht geben darf.