Nikolai Alexandrov Tchirpanliev weiß, dass ihm dieser Termin wieder Ärger bringen wird. Er hat ihren letzten Bericht gelesen, auch den davor, und es ist wahrscheinlich, dass sie auch nach diesem Besuch wenig Nettes über seine Behörde schreiben werden. Wieder wird es heißen, dass sein Amt mit der Flüchtlingssituation überfordert ist, dass es nicht in der Lage ist, würdevolle Unterkünfte bereitzustellen, überhaupt, dass die Bedingungen in Bulgarien für Menschen auf der Flucht nicht zumutbar seien. Tchirpanliev weiß, sie sind hier, um noch mehr Schwachstellen in seinem System zu finden. Und dennoch will er die beiden Referenten von Amnesty International heute empfangen.
Tchirpanliev, 57 Jahre alt, hemdsärmelig und jovial, einer der nie zu lange nachdenkt, bevor er spricht, leitet seit Oktober 2013 die staatliche Flüchtlingsagentur Bulgariens. Flüchtlinge, die die EU-Außengrenze überwunden haben, werden in der Regel mit seiner Behörde konfrontiert: Registrierung, Unterkünfte, Asylanträge – für all das ist sein Amt zuständig. Seine Behörde ist oft die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge in der EU. Und sie ist, so finden viele, kein besonders ehrenwertes Aushängeschild für Europa.
Am Nachmittag sitzt Tchirpanliev mit den Besuchern von Amnesty International in seinem Büro. Sie haben einen Dolmetscher mitgebracht. Auch Tchirpanliev hat eine Übersetzerin dabei, als würden sie nicht einmal den Dolmetschern trauen. Der Amnesty-Programmleiter für Europa und Zentralasien, aus London angereist, nennt zum Gesprächsauftakt eine inaktuelle Statistik und wird sofort von Tchirpanliev korrigiert. Seine Kollegin lässt ein Exemplar des neuen Reports über den Tisch rutschen. Sie hat dem Bericht1Bericht von Amnesty International versehentlich etwas zu viel Schwung gegeben. Viel zu schnell schlittert er über die Tischplatte auf Tchirpanliev zu. Als wolle sie ihn provozieren. Es ist ein denkbar schlechter Beginn für das Gespräch. „Ich kenne den Bericht“, sagt Tchirpanliev und lässt ihn wie ein schmutziges Tuch vor sich liegen. „Wir haben uns bereits einmal getroffen, wir haben viele Dokumente übergeben“, sagt er, „wir machen das auch gern weiterhin.“ Es ist ein höflicher Satz, aber er spricht ihn in einem Tonfall aus, als meine er das Gegenteil. Tchirpanliev ist zurückhaltend, er lächelt nicht, er ist ungewöhnlich schmallippig.
Jede Frage der Amnesty-Referentin ist ein charmant verkleideter Vorwurf, den sie mit einem unschuldigen „just for clarification“ einleitet. Just for clarification: Wie viele Asylanträge wurden bisher von Ihrer Behörde bearbeitet? Just for clarification: Welche Möglichkeiten haben Flüchtlingskinder, um am Schulunterricht teilzunehmen? Just for clarification: Wie viele Sozialarbeiter sind in den Flüchtlingsunterkünften beschäftigt? Tchirpanliev lässt dann seine Kollegen aus der Statistikbehörde rufen. Sie notieren die Fragen wie Kellner, die eine Bestellung aufnehmen, und verlassen wieder den Raum. Tchirpanlievs Antworten selbst sind allgemein und ungenau. Alle dürfen zur Schule gehen, sagt er, es gebe genug Sozialarbeiter. Und einmal: „Glauben Sie doch nicht alles, was Ihnen Flüchtlinge erzählen.“
Zum Abschied sagt er: „Unsere Flüchtlingszentren sind offen, ich würde mich freuen, wenn Sie eines besuchen würden.“ Es hört sich wie ein Rausschmiss an. Erst im abschließenden, etwas oberlehrerhaften Monolog des Amnesty-Gesandten finden sie überraschend doch eine Gemeinsamkeit. Als er die Dublin-Regeln kritisiert, da hebt Tchirpanliev zustimmend den Daumen.