Vom Auffanglager aus können sie die Anlegestelle der Fähre nach Piräus sehen. Sie haben ihre Weiterreise schon oft im Kopf durchgespielt. „Wir wollen alle unseren Weg gehen“, sagt Ghaith. Er will weiter nach Deutschland, weil er dann in Sicherheit leben kann und ihm, so hofft er, dort alle Chancen offenstehen. Oula möchte in die Schweiz. Ihr Mann, ein Kämpfer der Rebellen, wurde im Krieg schwer verwundet und mithilfe eines Journalisten nach Europa gebracht. Das Boot war ihre einzige Chance, ihm zu folgen. Auch Ahmad möchte weiter nach Deutschland. „Das Wichtigste ist, dass es dort keinen Krieg gibt.“ Niemand möchte in Griechenland bleiben.
Wer auf den Inseln landet, könnte in Griechenland einen Asylantrag stellen. Doch das Verfahren ist lang und nimmt den Menschen oft die letzte Würde. Die Erstaufnahmeeinrichtungen und Internierungszentren werden wie Gefängnisse geführt. Es ist für Flüchtlinge zudem nur schwer möglich, ein selbstständiges Leben in dem krisengeschüttelten Land aufzubauen. Viele wählen deshalb einen anderen Weg: Sie beantragen kein Asyl, sondern lassen sich einen Ausreisebescheid ausstellen. Damit müssen sie das Land zwar innerhalb von 30 Tagen verlassen. Doch was viel wichtiger ist: Es bedeutet auch, dass sie sich in dieser Zeit in Griechenland frei bewegen dürfen. Diese Zeit nutzen viele, um die Inseln zu verlassen und auf dem Festland nach einem weiteren Schmuggler zu suchen, der ihnen gefälschte Dokumente verkauft oder sie über die Grenze Richtung Norden bringt. Syrer dürfen sich mindestens sechs Monate in Griechenland aufhalten. Auch sie versuchen sich dann oft, weiter nach Schweden, Holland oder Deutschland durchzuschlagen.
Das ist auch Ghaiths Ziel. Er will sich in Athen neue Dokumente besorgen. Er sieht aus wie ein Europäer, sagen seine Freunde vom Boot, er wird das hinbekommen. Aber er wird noch einmal Geld benötigen. 3000 Euro hat er bereits für die Überfahrt bezahlt. Es war die teurere der beiden Schleusertouren auf die Insel. Sie wurden mit dem Boot an der Küstenwache vorbei bis an Land gebracht, der Schleuser machte anschließend kehrt. Es hätte noch eine andere Variante gegeben. Dabei wird ein Schlauchboot von einem Flüchtling gefahren, das mit schwachem Außenbordmotor und wenig Sprit ausgerüstet ist. Der Schleuser geht dabei das geringste Risiko ein. Das Schlauchboot wird nach der Ankunft von den Flüchtlingen zerstört, die Motoren schnappen sich oft Fischer aus den Dörfern. Ab 1000 Euro wird dafür bezahlt. Aber damit hat Ghaith schlechte Erfahrungen gemacht.
Vor vier Wochen hatte er die Überfahrt schon einmal versucht. Sie waren 32 in einem kleinen Schlauchboot, darunter fünf Frauen und drei Kinder. Von Izmir aus fuhren sie auf die Insel Lesbos zu. Als sie ein Schiff der Küstenwache bemerkten, schlitzten sie ihr Boot auf. Viele Flüchtlinge machen dies, um zu vermeiden, dass sie widerrechtlich zurückgedrängt werden. So ist die Küstenwache gezwungen, die Menschen vor dem Ertrinken zu retten. 30 Minuten lang reagierte die Küstenwache nicht. „30 Minuten schwammen wir im Wasser, dann erst wurden wir an Bord genommen.“ Aber das Schiff brachte die Flüchtlinge nicht auf die Insel. Sie kreuzten fünf Stunden auf dem Meer, dann wurden sie in einem beschädigten Schlauchboot vor der türkischen Küste wieder ausgesetzt.
Es ist nicht nachzuweisen, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß. Menschenrechtsorganisationen haben in den vergangenen Jahren umfangreiche Dossiers angelegt, die den griechischen Grenzbeamten ähnliche Methoden vorwerfen. Dies würde nicht nur gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, sondern auch gegen die griechische Gesetzgebung verstoßen. Flüchtlinge, die das Land erreichen, müssen zumindest die Möglichkeit haben, einen Schutzstatus zu beantragen.
Vieles deutet darauf hin, dass die Rückführungen in Griechenland System haben. Pro Asyl1Bericht Pro Asyl über Push-backs spricht in einem Bericht aus dem Jahr 2013 von „systematischen völkerrechtswidrigen Zurückweisungen“. Rund 60 Fälle wurden dokumentiert, in denen meist Spezialkommandos Flüchtlinge zurückgewiesen haben sollen. Der wohl bekannteste darunter war der Fall von Farmakonisi. Am 20. Januar 2014 starben acht Kinder und drei Frauen, als ein Schiff der Küstenwache das Boot ins Schlepptau nahm. Flüchtlingsorganisationen vermuten, dass es sich dabei um eine illegale Push-back-Operation handelte, das Boot also zurück in die Türkei geschleppt werden sollte. Die Ermittlungen wurden trotz scharfer Kritik aus dem Ausland eingestellt. Knapp zwei Monate nach dem Vorfall schossen Beamte der Küstenwache von Chios auf ein Flüchtlingsboot und verletzten dabei zwei Männer und eine 19 Jahre alte Frau.
Wir wollen mit dem Chef der Hafenbehörde von Chios darüber sprechen. Aber er kann die Kritik an dem Vorfall nicht nachvollziehen. Ioannis Argyrakis, 46, trägt ein schimmernd weißes Uniformhemd. Es ist ein brüllend heißer Sommertag. Die Türen und Fenster stehen weit offen, im Flur warten die italienischen Frontex-Beamten und gucken den Frauen hinterher. Argyrakis kann von seinem Büro auf das Aufnahmelager blicken. Er versucht, die Sache mit den Schüssen zu erklären. Er dreht an seinem Kugelschreiber. Das Boot war dabei, das Schiff der Küstenwache zu rammen, sagt er. Zudem sei es unklar gewesen, ob Waffen an Bord waren. „Schmuggler sind zu allem bereit, um ihrer Verhaftung zu entgehen.“ Am Ende war der Schmuggler zwar doch unbewaffnet, und so wirklich kann Argyrakis nicht verständlich machen, weshalb die Schüsse fielen. Aber schließlich hätten sich die Flüchtlinge später im Krankenhaus doch bei der Küstenwache bedankt, sagt er. „Sie wollten sogar ein Foto mit uns machen.“ Überhaupt verstehe er die vielen Vorwürfe an die Küstenwache nicht. In den meisten Fällen seien es vermutlich Missverständnisse, sagt er uns. „Wenn wir ihnen ein Seil zur Rettung zuwerfen, dann denken sie vielleicht, dass wir sie in die Türkei schleppen wollen.“
Argyrakis wurde zu Jahresbeginn zum Hafenchef befördert. Er hat ausgerechnet in dem Jahr seinen Dienst aufgenommen, in dem auf der Insel ein neuer Flüchtlingsrekord verzeichnet wird. 6518 Flüchtlinge werden im Jahr 2014 auf Chios registriert. Zwei Jahre zuvor waren es noch 69. „Es ist ein epidemischer Anstieg“, sagt Argyrakis. Jeder zweite davon stammt aus Syrien. Und jetzt, da Ende des Jahres die Nato ihren Einsatz in Afghanistan beenden will, flüchten auch immer mehr Menschen aus Afghanistan auf die rettenden Inseln: Dolmetscher, Lehrer, frühere Mitarbeiter der internationalen Streitkräfte. Die Krisen in der Region lassen die Flüchtlingswelle in der Ägäis anschwellen.
Aber es gibt auch einen anderen Grund, und der hat mit Griechenlands Grenzpolitik und dem längsten Fluss des Landes zu tun. Einige Hundert Kilometer nördlich fließt der Evros-Fluss durch das Land. Der Fluss trennt Griechenland von der Türkei. Knapp 200 Kilometer fließt der Strom vom Norden in den Süden und mündet in die Ägäis.