Verschollen

Wenn Flüchtlinge auf See sterben, werden ihre Leichname selten identifiziert. Angehörige suchen oft für immer nach den Vermissten.

Die Nacht, in der Mohamed aus den Träumen seiner Mutter verschwindet, ist klar, und das Meer liegt in windstiller Finsternis. „Ich bin auf einem Boot, ich fahre nach Italien“, lässt Mohamed über das Telefon ausrichten, „ich melde mich, sobald ich angekommen bin.“ Aber Mohamed, 23, ruft am nächsten Morgen nicht an. Er wird sich auch in den folgenden Tagen nicht melden. Mutter Fatuna Misrati ahnt, dass etwas geschehen ist. Es ist die Zeit, in der sie aufhört, von ihrem Sohn zu träumen. Aber sie denkt, das Meer kann sprechen, es würde ihr doch sagen, wenn es ihr den Sohn genommen hat.

Dreieinhalb Jahre später sitzt Fatuna Misrati in ihrer Wohnung in der Altstadt von Sfax und stützt sich auf ein gerahmtes Bild Mohameds. Es zeigt ihren lächelnden Jungen mit einer Baseballkappe. Der goldene Holzrahmen ist groß und sperrig, aber sie hat ihn auf den kleinen Tisch in der Küche gestellt. Sie klammert sich regelrecht daran, als wolle man ihr auch ihn noch wegnehmen.

Sprecht mit den Müttern von Sfax, haben sie uns gesagt, sie suchen ihre Söhne seit Jahren. Aus der Küstenstadt hatten sich in den Monaten des Arabischen Frühlings Tausende auf den Weg nach Italien gemacht. 28.000 Menschen registrierten die italienischen Behörden, die allein von Tunesien aus abgelegt hatten. Mehr als 1500 starben auf der Überfahrt. Von manchen der mit Menschen vollgepferchten Fischkutter fehlt jede Spur.

Die Mütter von Sfax aber wollen nicht glauben. Wir treffen SuadSuad, die um ihren Sohn trauert. In dieser Nacht des 29. März 2011 hat er noch vom Boot aus angerufen und sie um Entschuldigung gebeten, weil er sie alleine lasse. Wir sprechen mit HamidaHamida, die ihren Hafar nicht daran hindern konnte, sein Motorrad zu verkaufen, um sich damit die Fahrt zu finanzieren. „Bete für mich“, sagte er, auch er rief um 3 Uhr nachts vom Boot aus an und meldete sich dann nie mehr wieder. Und da ist YasmineYasmine, die sagt, dass sie ihren Ramzi noch vier Tage lang nach dieser Nacht immer wieder am Telefon anrief, aber am Ende der Leitung nur italienisches Stimmengemurmel hörte. Bevor das Telefon schließlich für immer verstummte.

Das Sterben auf dem Meer ist ein leiser Tod. Wenn Flüchtlingsboote sinken, werden kaum Nachforschungen angestrengt, Verantwortliche werden selten zur Rechenschaft gezogen, Leichen nur in Ausnahmefällen identifiziert. Nicht einmal die Zahl der Toten wird von einer offiziellen Stelle notiert. NGOs, Aktivisten und Journalisten haben deshalb Daten aus Archivberichten zusammengetragen. Auf mehr als 25.000 Tote und Vermisste seit dem Jahr 2000 kommt etwa The Migrant Files1The Migrant Files, die Datenbank, die Statistiken der Organisation United for Intercultural Action2United for Intercultural Action und des italienischen Journalisten Gabriele del Grande3Blog von Gabriele del Grande zusammenfasst.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch das Boot Mohameds niemals in Italien ankam. Aber dann gibt es noch diese Bilder aus einem Bericht des italienischen Senders Canale 5. Sie zeigen die Ankunft eines Flüchtlingsbootes auf Lampedusa. Und tatsächlich, mehrere Mütter sind sich sicher, ihre Söhne auf Fernsehbildern erkennen zu können. Auch Fatuna Misrati sieht auf den Aufnahmen ihren Mohamed. Aber was ist dann mit ihnen geschehen? Warum melden sie sich nicht? Warum rufen die Söhne ihre Mütter noch vom Boot aus an und dann nie wieder? Selbst wenn Italien bei der Registrierung nachlässig ist, wie wahrscheinlich ist es, dass ein ganzes Boot von Flüchtlingen nach der Ankunft verschwindet? Oder ist doch alles nur ein Trugbild der Hoffnung?

Die Mütter glauben nicht, dass sie sich bei den Aufnahmen täuschen. Sie erzählen uns von Abschiebegefängnissen, in denen ihre Söhne vermutlich festgehalten würden, sie deuten Verbrechen der Mafia an, aber für keine der Versionen gibt es wirklich Anhaltspunkte. Vor zwei Jahren hat die italienische Regierung 226 Namen und Fotos von vermissten Bootsflüchtlingen überprüft. Gerade fünf Namen tauchten in den Ankunftsregistern der Behörden auf.4Antwort Abgeordnetenkammer Italien

Fatuna Misrati möchte Gewissheit, was mit ihrem Sohn geschehen ist. Aber niemand kann ihr eine Antwort geben. Die tunesische Regierung nicht, die NGOs nicht, die sich für die Mütter schon eingesetzt haben. Selbst den Schmuggler aus dem Ort hat sie mehrmals zur Rede gestellt und nichts als vage widersprüchliche Antworten erhalten.

Es ist paradox: Das Mittelmeer gilt als eine der meistbefahrenen Routen der Welt, kaum ein Meer wird so lückenlos überwacht. Drohnen und Helikopter überfliegen die Region, Kriegsschiffe patrouillieren vor den Küsten, Fracht- und Passagierschiffe queren die See. Und trotzdem verschwinden Boote, ohne dass es bemerkt wird, trotzdem sterben Tausende Menschen, ohne dass sie gerettet werden können.

Der Wissenschaftler Charles Heller, 33, kann das nicht nachvollziehen. Er lebt mit seiner Familie in Le Kram, einem Vorort von Tunis. Es sind von dort nur wenige Minuten zum Strand. Im Sand spielen Kinder, einige Einheimische baden, am Horizont haben Frachtschiffe festgemacht, das Kreuzfahrtschiff „Costa Musica“ zieht auf seinem Weg nach Mallorca vorbei. „Das Meer ist eine pulsierende Ader“, sagt Heller. Frachtschiffe und Personenfähren bewegten sich darauf frei und dennoch sei es zugleich ein gewaltiger Filter. „Die Mehrheit der hier Badenden hat keine Möglichkeit, das Meer zu überqueren.“ An diesem so friedvoll wirkenden Szenario, will Heller sagen, zeigt sich die eigentliche tiefgreifende Gewalt der Grenzen Europas.

Charles Heller wuchs in Genf und den USA auf. Er studierte an der Goldsmiths-Universität in London und forscht am Lehrstuhl für forensische Architektur. Die forensische Architektur versucht, anhand der Analyse von Schäden an Gebäuden oder Räumen Kriegsverbrechen aufzuklären. Heller beschäftigte sich in seinem Projekt mit einem Teilgebiet davon, der forensischen Ozeanografie. In seiner Masterarbeit rekonstruierte er mit digitalen Karten, Windströmungen, Satelliteninformation, Rettungszonen sowie Zeugenaussagen ein Bootsunglück aus dem Jahr 2011. Zwei Wochen trieb ein Schlauchboot mit mehr als 70 Menschen hilflos durch das Mittelmeer. Immer wieder sendete es erfolglos Notrufe. Am Ende überlebten nur neun Flüchtlinge die Fahrt. Hellers Team recherchierte, dass die Nato die Notsignale empfangen und weitergegeben hatte, aber kein Schiff darauf reagierte. 40 Kriegsschiffe waren zu diesem Zeitpunkt im Mittelmeer stationiert, mehrere Helikopter und Schiffe lagen laut Rekonstruktion in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingsbootes.

Der Fall des Flüchtlingsbootes war die Grundlage für das Projekt Watch the Med5Watch the Med im Jahr 2012. Seither sammelt die Plattform Informationen über Bootsunglücke. Watch the Med geht allerdings noch einen bedeutenden Schritt weiter. Die Plattform stellt die Frage nach der Verantwortung. „Wenn ein Kreuzfahrtschiff wie die ,Costa Concordia’ havariert, beschäftigen sich Gerichte über Jahre mit der juristischen Aufarbeitung“, sagt Heller. „Für gesunkene Flüchtlingsboote interessiert sich kaum jemand.“ Watch the Med rekonstruiert die Bootsfahrten und erstellt anhand der digitalen Daten Bewegungsbilder. Am Ende schlägt Watch the Med die staatlichen Akteure mit deren eigenen Mitteln. Der zur Flüchtlingsabwehr hochüberwachte Mittelmeerraum liefert Daten, die zur Grundlage für Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung führen. Das aber reicht den Experten um Charles Heller nicht. In Zukunft sollen Unglücke verhindert werden. Im Oktober wurde gemeinsam mit einem Netzwerk aus Aktivisten eine Notrufnummer für Bootsflüchtlinge freigeschaltet. So werden bei einem Notfall Mitarbeiter und Aktivisten alarmiert, die nicht nur Rettungskräfte informieren, sondern auch die Koordinierung des Einsatzes überwachen. In den vergangenen Jahren war es immer wieder wegen unklarer Zuständigkeiten und Kompetenzen zu verspäteten Rettungsaktionen gekommen. Reagieren Marineschiffe oder Küstenwache nicht rechtzeitig, werden die Medien informiert. „Dann machen wir Krach“, sagt Heller. So will Watch the Med nicht nur die Staaten zur Rechenschaft ziehen, sondern langfristig auch auf die Politik einwirken. Denn für Heller bleibt trotz der italienischen Rettungsoperation „Mare Nostrum“ ein Grundproblem der europäischen Politik bestehen: „Wir können uns nicht damit rühmen, Menschen gerettet zu haben, wenn es unsere Politik ist, die Menschen in den Tod treibt. Das ist doch ein Widerspruch in sich.“

Inzwischen aber geht das Sterben weiter. 485 Kilometer weiter südlich sitzt Dr. Mongi Slim in der Lobby des Hotel El Kssour in Medenine und telefoniert. Er ist ein fröhlicher Mensch, einer, der ungünstige Augenblicke einfach weglächeln kann, er verschwindet kurz im Gespräch, weil er noch jemandem etwas versprochen hat, ist wieder zurück. „Wo waren wir stehen geblieben?“ Dann klingelt wieder eines der beiden Telefone.

Mongi ist Apotheker und der Präsident des Roten Halbmondes in der Region. Er ist somit auch zuständig für das Grenzgebiet zu Libyen. In Libyen zerfallen gerade die letzten staatlichen Institutionen. Es sind die besten Arbeitsbedingungen für Kriminelle wie Schmuggler. Viele syrische Flüchtlinge fliegen von Istanbul, Kairo oder Beirut in das visumfreie Algerien, durchqueren den Süden von Tunesien und erreichen Zuwarah gleich hinter der Grenze in Libyen. Dort steigen sie auf Flüchtlingsboote.

Manchmal, wenn der Wind in den Westen weht, treibt er die Flüchtlingsboote an die tunesische Küste. Sechs Boote strandeten in diesem Sommer und mit ihnen Flüchtlinge, die überall hin wollten nur nicht nach Tunesien. In Medenine wurden Flüchtlinge aus dem Sudan, Somalia und Eritrea in einem Studentenwohnheim einquartiert. Der Bootsmann hatte sich als Kapitän ausgegeben, um sich das Geld für die Passage zu sparen. Erst auf See zeigte sich, dass er nicht navigieren konnte. Nach 20 Stunden, in denen sie kaum vorangekommen waren, erbarmte sich die Küstenwache und zog sie an Land. Jetzt stecken sie fest. Vor wenigen Tagen strandeten weitere 15 Flüchtlinge. Sie wurden im Hafen von Zarzis untergebracht, jetzt aber möchte sie die Hafenbehörde loswerden. Mongi Slim muss eine Bleibe finden, deshalb die ganzen Anrufe.

Dann gibt es aber noch einen Job Mongis. Wenn der Wind in den Westen dreht, treibt er manchmal nicht nur Boote an die Küste, sondern auch die Toten der gescheiterten Fluchten. Die Helfer des Roten Halbmonds waren draußen am Strand, als die Leichen des Bootsunglücks vom 24. August angeschwemmt wurden. Am ersten Tag fanden sie drei Tote. Am zweiten Tag trieben bereits fast 30 im Wasser. Die Nationalgarde hatte um Hilfe gebeten. Sie benötigten ein Schlauchboot und Leichensäcke, da sie nur Plastiktüten besaßen.

Die Helfer vom Roten Halbmond haben die Leichen aus dem Wasser gefischt. Die Nationalgarde fand auch Pässe und Dokumente. Manche wurden angeschwemmt, andere klebten eingeschweißt in Plastikfolie an den Toten. Die Pässe der Toten wurden eingesammelt und alle zusammen in eine Tüte gesteckt. Somit wurde die letzte Chance einer Identifizierung unmöglich gemacht. Auch beim Roten Halbmond ist man nicht glücklich über die Situation. Aber im postrevolutionären Tunesien sind die Prioritäten der Behörden andere.

Dr. Mongi Slim hat jetzt eine Liste mit 26 Namen. Es sind die Namen derjenigen, deren Pässe und Dokumente gefunden wurden. Aber sie haben jetzt keine Aussagekraft mehr. Er erhält in diesen Tagen Anrufe und E-Mails aus der ganzen Welt. Sie schicken Bilder und wollen wissen, ob ihre Angehörigen unter den Toten sind. Mongi Slim zeigt ein Foto auf seinem Handy. Ein glückliches Paar im Flugzeug, vermutlich auf dem Weg nach Algerien. Er zuckt die Schultern. Es existieren einige Aufnahmen von Leichen, die im Wasser liegen, aber die Toten sind nach den Tagen im Meer nicht mehr wiederzuerkennen. Mongi schüttelt den Kopf: „Was soll ich machen?“ Die Toten wurden längst bestattet.

Am Strand vom Hafen El Ktef an der Grenze zu Libyen liegen sie begraben. Wer nicht weiß, wo die Stelle ist, kann sie nicht finden. Ein weggeworfener Mundschutz, einige leere Wasserflaschen der Helfer und die Reifenspuren des Lkw, der die Toten abgeladen hat, sind die einzigen Hinweise auf die Grabstelle. Mehr als 40 Leichen wurden beigesetzt, der Boden wurde eingeebnet. Es wurden keine DNA-Proben genommen und auch keine Fingerabdrücke. Beim Roten Halbmond überlegt man, einen Hinweis anzubringen. Aber sie haben keine Namen.

Griechenland könnte für Flüchtlinge ein sicherer alternativer Weg nach Europa sein – aber Grenzpolizisten und Küstenwache sind dort gefürchtet

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